Vernissage “Bis in die Poren”

von Franziska Mätzold

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Bis in die Poren …
Rede von Dr. Thomas Schmaus auf der Vernissage zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Emsdetten
am 11.11.2012

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,

wer anfängt, über Bilder zu reden, der hat schon verloren. Da kann er sich seiner Sache noch so sicher sein – sie wird ihm entgleiten, bevor er sie fest zu fassen bekommt. Ganz besonders gilt das für Philosophen, die alles so gerne auf den Begriff bringen wollen, in Griff bekommen wollen. Wer über Bilder redet, nähert sich seiner Sache, dem Bild also, auf eine Weise, die nicht sach-gemäß ist, die sich nicht gehört, die nicht dazu­gehört, die nicht dazu passt. Bilder wollen nicht besprochen werden. Bilder wollen gesehen werden.
Moment, so einfach geht es nun doch nicht! Was ist denn damit? Wenn man sich so ein Bild einmal angesehen hat, in Ruhe, es wirken hat lassen, und man ist nicht allein mit sich und der Bilderwelt, dann kann man doch darüber reden. Nichts anderes geschieht ja auch in der Klasse von Andres Orosz, die sich sogar feste Zeiten für solche Besprechungen reserviert.
Gut, dann eben so: Wer anfängt, über Bilder zu reden, noch bevor er sie zu Gesicht bekommen hat, der hat schon verloren. Ich fürchte, auch damit kann ich mich nicht aus der Affäre ziehen, ich kenne ja viele der Bilder, ich war ja dabei. Einige von ihnen habe ich entstehen gesehen. Und doch – das Problem ist immer noch nicht vom Tisch: Wer anfängt, über Bilder zu reden, zu Menschen, die sie noch gar nicht gesehen haben, der hat schon verloren. Das gilt doch. Ist eine solche Rede, wie die, die ich hier halte, also in einer Finissage besser aufgehoben als in einer Vernissage?
Ich mache es so: Ich werde heute zu Ihnen tatsächlich nicht über Bilder reden, aber ich werde in Bildern reden. Das ist ja das Schöne, dass unsere Sprache alles andere als bildlos ist. Auch wenn manche Zeitgenossen diese Sprachbilder loswerden wollen, um exakt und deutlich zu reden, es gelingt doch nicht. Zum Glück! Was wäre denn die Sprache ohne ihre Metaphern, Allegorien und bildhaften Vergleiche … Aus diesem großen Bilder­­reich­tum habt ihr ein besonders schönes Exemplar ausgewählt, um der Aus­stel­lung damit einen Titel zu geben: „Bis in die Poren …“
Diese Redewendung hat für mich drei Aspekte, mit denen ich etwas anfangen kann. Und zwar wirklich etwas anfangen, ohne dass ich gleich schon wieder auf verlorenem Posten stehe. Etwas, das mir und vielleicht auch Ihnen eine frische Sicht auf die Aus­stellung eröffnet. Aspekte, das sind ja Sichtweisen, die den Blick ausrichten. Und in unserem Fall „bis in die Poren“ hinein. Das wäre also der erste Aspekt: Wer bis in die Poren vordringt, der schaut ganz genau hin. Der wirft nicht nur schnell seinen Blick auf etwas, sondern geht in die Tiefe. Und einer Sache auf den Grund. Das werden Sie später bei den Bildern tun und das will ich jetzt bei der Sprache tun. Denn auch bei den Wörtern kann man „bis in die Poren“ gehen. Das empfiehlt sich ganz besonders bei den großen, schweren Begriffen, die sich bei dieser Ausstellung aufdrängen, wie zum Beispiel „Realismus“ oder „gegenständliche“, also nicht „abstrakte Malerei“.
Das sind schwere Brocken, die sich da sofort vor unsere Augen schieben und eine unverstellte Sicht auf die Bilder erschweren. Brocken, die oft auch für die Künstle­rin­nen und Künstler eine Last darstellen. Was tun? Man kann sie umgehen oder igno­rie­ren, aber sie sind nun einmal da. Man kann sie sich aber auch näher ansehen, diese Begriffsbrocken, und dann wird sich zeigen, dass sie so glatt nicht sind, dass sie ganz feine Öffnungen aufweisen, Poren, dass sie durchlässig sind: porös. Und plötzlich merkt man, diese „Dinger“ sind ja gar nicht so schwer, die lassen sich so locker heben wie Bimsstein, den man lange für Granit gehalten hat, die werden leicht, die werden beweglich. Um gleich ein Beispiel zu geben. Das Wort „Pore“ hat einen griechischen Ursprung und der heißt „poros“ und das meint „Weg“. Wer „bis in die Poren“ sieht, sieht mehr, der geht weiter, findet einen Weg, wo andere keinen mehr sehen. Das ist der zweite Aspekt: „Bis in die Poren …“ heißt für mich: beweglich bleiben, lebendig sein. Unse­re Haut atmet ja sogar durch die Poren. Wer in diesem Sinne selbst porös wird und auf poröse Weise sieht, für den stel­len Leichtigkeit und Schwere keinen Gegensatz mehr dar, der sich ausschließen muss.
Machen wir uns also auf den poros, auf den Weg, und unternehmen einen kurzen Spa­zier­gang durch eine steinige und gefährliche Begriffswüste. Das Motto dieser Aus­stel­lung nehme ich dabei als Persilschein mit. Denn einen Persilschein, also die Erlaubnis, etwas zu tun, wo es nicht ganz sauber zugeht, wo man sich schmutzig machen kann – einen solchen Persilschein braucht es für diesen Spaziergang wohl. Und was könnte besser dafür geeignet sein als ein Motto, das „porentief rein“ wäscht. Diese porentiefe Reinheit ist nach dem Tiefgang und der Porosität mein dritter Aspekt. Natürlich ist das eine bewusste ironische Anspielung auf die saubere, klare Pinsel­führung und auf die Genauigkeit, die mit dem Malstil verbunden ist, der uns in diesen Räumen begegnet. Die Ironie wird noch deutlicher, wenn man sich klarmacht, dass schon der Begriff „Motto“ nicht ganz „sauber“ ist, der kommt nämlich von dem lateinischen Wort „muttum“ für Grunzen … Porentiefe Reinheit kann man aber auch jenseits von Sauberkeit so verstehen: Dass es hier eben rein um die Malerei geht, keine aufgela­dene Inszenierung, sondern es geht um die pure, reine Kunst.
Wenn es doch so einfach wäre: Es geht um Kunst – und nichts außerdem. Aber nein, das reicht nicht aus, es geht ja um eine bestimmte Kunstform, nämlich die Male­rei und dabei wieder um einen bestimmten Stil: Es geht um realistische Malerei. Ich weiß, lieber Andreas, Du magst diesen Begriff nicht – und das mit Recht, denn man spürt, wie eng auf einmal alles wird, wenn man sich dadurch definieren, also ein­gren­zen lässt. Schauen wir einmal, was passiert, wenn dieser Begriff porös wird. „Realistisch“ malen, das betrifft das Was und das Wie. Das Was ist schnell gesagt, das ist die Rea­li­tät, unsere Wirk­lichkeit. Und wie wird sie gemalt? Na eben realistisch, wirk­lich­keits­nah, also so, dass man die Realität auf dem Bild auch erkennen kann – das Bild, das ein Abbild der Wirklichkeit ist. Detailgenau. Detailgetreu.
Ist das nicht ein biss­chen naiv? Na klar ist es das, aber naiv, das sind doch nicht die Maler und deren Male­rei, son­dern diejeni­gen, die so darüber reden. Die Maler wissen nämlich ganz genau, wie vielschichtig diese Wirklichkeit doch ist und wer sich auf die Bilder einlässt, der wird sehen, dass sie auf die eine oder andere Weise durchlässig sind für eine ganz be­stimmte Wirklichkeitsschicht; dass sie diese zum Vorschein bringen, vielleicht sogar ganz transparent, dass sie andere Schichten ver­­bergen; oder – wieder anders – bewusst in ihrem geheimnisvollen Charakter darstellen. So viel­schichtig wie diese Wirklichkeit ist auch das Spektrum der Arbeiten von Andreas Orosz und seinen Studenten, sowohl was die Themen angeht, also was dargestellt wird, als auch wie es ausformuliert wird im jeweils eigenen Stil.
„Realistisch“, das heißt wörtlich übersetzt: sachlich. Ich weiß nicht, ob das ein guter Rat­schlag für Künstler ist: sachlich zu sein. Aber zur Sache kommen, das ist etwas, womit unsere Künstler etwas anfangen können. Wer zur Sache kommt, der ist da. Und zwar ganz. Da geht man nicht in Deckung, sondern lässt sich betreffen und bewegen. Das pralle Leben, das ist da. Kein Wunder, dass auch die Bilder dieser Ausstellung so zur Sache kommen. Man sieht: Da ist ein Motiv wirklich ein Motiv, nämlich etwas das den Künstler motiviert, bewegt. Und in diesem Sinne, weil sie zur Sache kommt, weil sie die Sache zum Vorschein kommen lässt, kann man diese Malerei auch realistisch nennen.
Also mit dem Realismus ist das so eine Sache. Wie ist es nun damit: gegenständ­li­che Ma­le­rei? Hier bin ich – und da ist der Gegenstand. Mir gegenüber. Zum Stehen gebracht von mir, festgestellt, in Stand gesetzt. Das sagt der Philosoph. Kant zum Bei­spiel. Der große Freund der Zentralperspektive wird zugeben, da ist was dran. Er ist der Mittelpunkt seiner Bilderwelt und alles ist ihm zugewandt. Auf ihn hin ausgerichtet. Aber zum Stehen gebracht wird dadurch noch lange nichts. Im Gegen­teil, so ein „gegen­ständliches“ Bild hält einen ganz schön auf Trab. Maler wie Betrachter. Das Bild lockt, ja es zwingt einen ständig dazu, seinen Standpunkt zu wechseln, näher heranzukommen, wieder Abstand zu nehmen, von der Seite zu schauen, sich auf Einzelheiten zu konzentrieren, von einem Gesicht in Bann gezogen zu werden und dann wieder aufs Ganze zu gehen. Auch so ein sperriges Wort wie der Gegenstand kann in Bewegung geraten, wenn man ihm bis in die Poren schaut.
Genau betrachtet wird er dann sogar so durchsichtig, dass man auf die andere Seite sehen kann, auf die dunkle Seite der gegenständlichen Malerei: und die ist abstrakt. Ja, in einem hintergründigen Sinne sind alle Maler, die in die­ser Aus­stellung vertreten sind, ab­strak­te Maler. Sie abstrahieren nämlich mehr oder weniger von dem, was sie da zur Darstellung bringen. Ab-strahere: Wörtlich: etwas wegziehen, herausziehen, abziehen. Da reicht bereits eine kleine Facette, und schon hat man abstrahiert. – Das Grundmotiv dieser Künstler, ihre Grundbewegung, ist dagegen alles an­de­re als abstrakt. Und das trifft auch auf ihre Bilder zu. Denn da geht es ja nicht darum, etwas heraus­zuziehen, sondern im Gegenteil: Wir werden regelrecht in sie hineingezogen. Diese Bilder sind an­ziehende Bilder. Selbst wenn sie uns, wie das ein oder andere, vor den Kopf stoßen, sind sie nicht abstoßend. Selbst, wenn sie rein von Gesten leben und Gegenstände kaum erkennbar mehr sind, sind sie nicht blutleer „abstrakt“, sondern entfalten sie eine Sogwirkung, der man sich schwer entziehen kann.
Und man sehe und staune: Das gelingt diesen Bildern gerade deswegen, weil sie  ober­­fläch­lich sind. Weil sie anders als die Photographie, mit der man sie so gerne ver­gleicht, eine Oberfläche haben. Und ist die Farbschicht auch noch so dünn: Diese Oberfläche macht den Unterschied. Sie sorgt für die dritte Dimension. Gemalte Bilder sind räumlich. Sie eröffnen einen Raum und nehmen uns mit hinein. Diese Bilder können das: oberflächlich sein und zugleich Tiefenwirkung entfalten. Wie schön, dass angesichts dessen diese Vernissage ihrem Namen nicht gerecht wird – sondern porös. Die Vernissage heißt so wie sie heißt, weil mit ihr ur­sprünglich der Moment gefeiert wur­de, an dem der Firnis (frz. vernis), also der Oberflächenschutz auf die Bilder auf­ge­tragen wurde. Danach ging nichts mehr – für die Künstler. Jetzt waren die Zu­schauer am Zug.
Hier geht noch alles. Die Bilder sind da, ungeschützt und nah, ganz frisch sind sie, lebendig – ja fast noch feucht. Der Spiel-Raum ist eröffnet. Und die wichtigsten Mitspieler finden Sie hier (mitten unter Ihnen), die Künstlerinnen und Künstler. „Mitspieler“ sage ich deswegen, weil ich das immer wieder erleben darf in der Klasse von Andreas Orosz. Denn da herrscht eben das, was ich vorhin als Porosität bezeichnet habe, ein spielerischer Ernst. Und Mitspieler auch deswegen, weil das dem Verständ­nis von Andreas Orosz mehr entspricht als demjenigen von Lehrer und Schüler. Um das Sprachspiel auch ganz auszureizen: Wäre die Klasse ein Fußballteam, dann wäre Andreas Orosz, der übrigens großer Fußballfan ist, nicht der Coach am Spielfeldrand, sondern ein Spielertrainer. Einer eben, der mit auf dem Feld steht, läuft, sich bewegt, Ratschläge gibt, moderiert, Anwei­sun­gen, auch das, ja, aber vor allem eines tut: mitspielen. Bälle zuspielen, aber auch annehmen und weitergeben. Andreas Orosz versteht sich als Teil der Klasse, nicht als Lehrer von Schülern oder gar als Meister von Jüngern. Sein Bewegungsspielraum wird dadurch gerade nicht eingeschränkt.
Alle, die hier und heute ausstellen, die Alumni und auch diejenigen, die ganz frisch zur Klasse gestoßen sind, bilden eine Lerngemeinschaft. Sie lernen miteinander, anein­an­der und voneinander zu malen. Vor allem aber lernen sie zu sehen. Die Wirklichkeit zu eräugen, bis hinein in die Poren. Um dann das Eräugte wiedergeben zu können. In seinem Ereignischarakter. (Das Wort „Ereignis“ kommt von „eräugen“.) Es geht also um eine frische, lebendige, poröse Art und Weise der Wiedergabe, die auch dem Betrachter nicht verborgen bleibt. Diese Bilder helfen uns selbst dabei, besser sehen zu lernen. Mehr sehen, das ist das eine, aber fast noch wichtiger ist es, ursprünglicher zu sehen. Das sind alles Motive, die kennen wir (haben wir jedenfalls gedacht), aber wir sehen sie auf diesen Bildern wie zum ersten Mal. Das also ist eine Weintraube! So geht ein Blick! Ah, das ist Stadt …

So malen kann man nicht, wenn man sich nicht selbst bis in die Poren öffnet und betreffen lässt. Und so habe ich euch immer wieder erlebt, liebe Künstlerinnen und Künstler. So unterschiedlich ihr auch seid. Ob aufmerksam, neugierig, nervös, laut, ob leidenschaftlich oder gelassen, ob nüchtern, ruhig, leise oder auch still. Eines habt ihr doch alle gemeinsam: eine Offenheit, die mit Extrovertiertheit und Introvertiertheit nichts zu schaffen hat, sondern mit einer staunenswerten Sensibilität für die Wirk­lich­keit in ihrer Vielschich­tigkeit. Man ist gern bei euch. Und man geht nicht weg, ohne beschenkt worden zu sein. Das kann ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, jetzt schon versprechen.
Mit ein bisschen Glück, wenn es sich trifft, wenn es Sie trifft, werden Sie gleich eine Erfahrung machen, die ich Weltaufgang nennen möchte. Ich meine das gar nicht pathetisch. Es geht um kleine Welten, Bilderwelten – aber es sind doch ganze Welten. Oberflächlich wie sie sind, eröffnen die Bilder dieser Ausstellung einen Raum und ziehen uns mitten hinein, so dass uns eine Welt aufgeht. Kann man so etwas begreifen? Nein. Aber man kann es sehen. Nicht zu fassen …

Dr. Thomas Schmaus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für philosophische und ästhetische Bildung an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen im Bereich der philosophischen Anthropologie und der Phänomenologie. Insbesondere beschäftigt er sich mit Kunst- und Technikphilosophie.